Interview Prof. Dr. Rodolfo Schöneburg: „Auch für Cabrios und Roadster gilt: Ein Stern genügt“

05.09.2016
Stuttgart

Kein festes Dach über dem Kopf und trotzdem bestmöglicher Schutz bei einem Unfall – Professor Dr. Rodolfo Schöneburg, Leiter Fahrzeugsicherheit Mercedes-Benz Cars, über das Sicherheitsniveau von Cabrios und Roadstern und den hohen Entwicklungsaufwand bei Mercedes-Benz.

Herr Prof. Schöneburg, wie häufig passieren eigentlich Unfälle mit Cabrios und Roadstern?

Prof. Schöneburg: Cabrios und Roadster sind unterdurchschnittlich oft in Unfälle verwickelt, das zeigen unsere Auswertungen der Daten des Unfallforschungsprojekts GIDAS (German in-Depth Accident Study). Wir führen das darauf zurück, dass diese Fahrzeuge in der Regel einen niedrigeren Schwerpunkt haben, seltener im Winter und bei schlechten Wetterverhältnissen bewegt werden und der Fahrstil insgesamt defensiver ist.

Ein Überschlag ist das Horrorszenario schlechthin bei einem offenen Auto. Wie häufig kommt diese Unfallart in der Realität vor?

Sehr selten. Über alle Fahrzeuge hinweg findet in Deutschland bei drei Prozent aller Unfälle ein Überschlag statt. Bei Cabrios und Roadstern ist diese Unfallart noch seltener: Laut GIDAS-Daten sind nur rund 1,7 Prozent aller Unfälle mit diesen Fahrzeugen Überschläge.

Dennoch unterzieht Mercedes-Benz auch Cabrios und Roadster dem so genannten Dachfalltest, oder?

Selbstverständlich. Alle Fahrzeuge von Mercedes-Benz Cars absolvieren das gleiche harte Entwicklungsprogramm. Das gilt für den smart fortwo ebenso wie für die S-Klasse und für Cabrios ebenso wie für Limousinen oder SUV. Insgesamt 40 unterschiedliche Crashtest-Konfigurationen müssen alle Fahrzeuge bestehen. Darunter sind neben den gesetzlich vorgeschriebenen Crashtests und Ratings auch zusätzliche interne Crashtests mit oft weit strengeren Anforderungen – wie etwa der Dachfalltest.

Wie läuft der Dachfalltest genau ab?

Beim Dachfalltest fällt die Karosserie in leichter Schräglage aus 50 Zentimeter Höhe auf die Dachstruktur und das Fahrzeug prallt auf eine der beiden A-Säulen. Unsere Unfallforschung hat gezeigt, dass diese Fallhöhe sehr gut mit der Fallhöhe bei realen Überschlägen korreliert. Schon Ende der 1950er-Jahre hat unser Unternehmen mit dynamischen Überschlagtests begonnen, bei denen Fahrzeuge einseitig über eine Rampe gefahren werden. Diese führen wir noch heute durch. Das sieht spektakulär aus, hat aber den Nachteil, dass der Aufprall eher zufällig erfolgt und die Ergebnisse daher kaum reproduzierbar sind.

Und worauf kommt es beim Dachfalltest an?

Entscheidend ist, dass den Passagieren genügend Raum verbleibt. Durch versteifte A-Säulen und Überrollbügel gleichen wir hier den konzeptbedingten Nachteil offener Fahrzeuge aus.

Welche Crashkonfiguration ist sonst noch kritisch für Cabrios und Roadster?

Der Seitenaufprall ist auch eine kritische Unfallart, weil diese Fahrzeuge ja keine B‑Säule, sondern nur einen entsprechenden Stumpf haben. Über stabile Türen und eine Abstützung am Schweller erreichen wir bestmöglichen Schutz und eine gute Krafteinleitung.

Was war aus Ihrer Sicht die größte Sicherheitsinnovation bei Cabrios und Roadstern?

Ein Meilenstein war sicherlich der automatische Überrollbügel des SL der Baureihe R 129 (1989 bis 2001), der bei einem drohenden Überschlag sensorgesteuert innerhalb von 0,3 Sekunden hochschnellt. Auch der Gurtbringer für Fahrzeuge ohne B-Säule, erstmals eingeführt beim S-Klasse Coupé 1981, ist eine bis heute aktuelle und wichtige Innovation. Sogar die Nackenheizung AIRSCARF, die wir 2004 beim SLK eingeführt haben, kann als Beitrag zur Sicherheit gesehen werden. Denn sie kann die Konditionssicherheit erhöhen, die ein wichtiger Baustein unseres Integralen Sicherheitsansatzes ist.

Obwohl Sie einer der Väter von PRE-SAFE® sind, haben Sie dieses präventive Insassenschutzsystem jetzt gar nicht erwähnt. Es ist aber für Cabrios und Roadster genauso erhältlich, oder?

Selbstverständlich, denn wir machen keine Unterschiede bei der Sicherheit. Und wie bei jedem Fahrzeugtyp adaptieren wir das PRE-SAFE® System entsprechend, passen Auslösestrategie und Parametrierung also unter anderem auf Fahrzeugschwerpunkt und Steifigkeit an. PRE-SAFE® Impuls Seite ist unsere jüngste präventive Sicherheitsinnovation, die wir in der E-Klasse vorgestellt haben. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis wir in weiteren Fahrzeugen bei einer drohenden Seitenkollision den Fahrer oder Beifahrer präventiv seitlich weg vom Gefahrenbereich bewegen werden…

PRE-SAFE® Sound ist eine weitere PRE-SAFE® Innovation, die Sie jüngst eingeführt haben. Macht es in einem offenen Fahrzeug überhaupt Sinn, das Gehör der Insassen auf das zu erwartende Unfallgeräusch vorzubereiten?

Ja, in Cabrios und Roadstern wird das Gehör möglicherweise sogar stärker beansprucht als in geschlossenen.

Also können wir auch hier erwarten, dass nach seinem Debüt in der E-Klasse PRE‑SAFE® Sound bald in einem Cabrio kommen wird?

Lassen Sie sich überraschen (lacht)… „Ein Stern genügt“ ist ja generell unsere Sicherheitsphilosophie und so wollen wir unseren Kunden selbstverständlich auch in einem Cabrio oder Roadster die bestmögliche Sicherheit bieten. Speziell für Cabrios haben wir Headbags entwickelt, die aus der Türbrüstung kommen, denn mangels Dachrahmen lassen sich keine Windowbags umsetzen. Unser Engagement sehen Sie auch daran, welchen Aufwand wir auf der Rücksitzbank treiben: Bei unseren Fahrzeugen sind auf allen äußeren Plätzen auch hinten Gurtstraffer und Gurtkraftbegrenzer serienmäßig, bei vielen anderen Herstellern sind diese für den Fond gar nicht oder nur gegen Aufpreis zu erhalten. Die Fondpassagiere im S‑Klasse Cabrio können bei einem Seitenaufprall durch die Head-Thorax Sidebags im Kopf- und Brustbereich geschützt werden. Die Bags sind am Rohbau hinter der Fondlehne verbaut und sie entfalten sich bei Aktivierung in Höhe von Kopf und Brust zwischen Fahrzeugseite und Insasse.

Wo erwarten Sie noch Fortschritte bei der Sicherheitstechnik für Cabrios und Roadster?

Grundsätzlich hat die Vorunfallphase noch viel Potenzial, also die Zeit vom ersten Erkennen einer unfallträchtigen Fahrsituation bis zum Crash. Hinzu kommt, dass die Sensoren besser und zuverlässiger als früher vorhersagen können, ob es einen Crash geben wird. Das ermöglicht ganz neue PRE-SAFE® Funktionen.

Zur Person:

Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg wurde am 30. Oktober 1959 in Ciudad Bolivar in Venezuela geboren, studierte Luft- und Raumfahrttechnik und promovierte an der Technischen Universität Berlin. Er ist Inhaber einer Honorarprofessur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Dresden. Seit April 1999 ist er bei Mercedes-Benz als Centerleiter Fahrzeugsicherheit, Betriebsfestigkeit und Korrosionsschutz tätig. Unter seiner Leitung ging unter anderem 2002 das präventive Insassenschutzsystem Mercedes-Benz PRE-SAFE® in Serie, mit dem die Autoindustrie in eine neue Ära der Fahrzeugsicherheit startete.

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